HÖRSPIEL-SCRIPT
Getrübte Einigkeit
(Teil I - II - III - IV - V - VI - VII - VIII - IX - X):
"Freizügigkeit, Selbstzweifel und Gehirnwäsche"
LINDA
(Journalistin, Gattin, Kundin, Modernistin)
ARNO
(Industrieller, Verkäufer)
DORIS
(Terroristin, Realistin, Kundin)
RICHARD
(Kriecher, Maler, Skeptiker)
LINDA Wir haben es
ja wirklich alle miteinander geahnt, dass diese
übermäßige
Freizügigkeit, die wir Leuten wie Ihnen, die das in
keiner
Weise zu schätzen wissen, gewähren, eines Tages mit
voller
Wucht auf uns zurückprallen würde.
Aber
musste es denn gleich so schlimm kommen ?
DORIS Sie müssten
das jetzt wirklich selber sehen: Wie Sie sich winden ;
Und
wie Sie es verdient haben !
ARNO Sie haben
wohl nur noch Spott für Ihre Mitmenschen übrig !
DORIS Ach, Spott
ist das nicht - In mir steigt nur langsam die Wut hoch,
wenn
ich mir mit ansehen muss, wie Sie und Ihre spießige
Bekannte
versuchen,
einen so gutmütigen Menschen, wie Richard zu unter-
drücken.
Sie
behandeln ihn die ganze Zeit über wie einen Unmündigen und
halten
ihn künstlich dumm, nur weil Sie keinen Widerspruch ertragen
können.
ARNO Also, ich
sehe nirgends Widersprüche. Kann mir bitte mal jemand
verraten,
wo hier Widersprüche zu finden sein sollen ?
DORIS Sie machen
das ganz raffiniert, muss ich sagen.
ARNO Jetzt hören
Sie mir bitte mal zu, junge Frau: Es ist für mich ja gerade
noch
so tolerierbar, wenn Sie aufgrund Ihrer Unbedarftheit unsere
Gesellschaftsordnung
als solche ablehnen.
Diese
erlegt uns, die wir sie akzeptieren und schätzen, ja schließlich
auch
auf, Leute wie Sie nicht sofort aus dem Verkehr zu ziehen.
LINDA Die
Versuchung wäre wirklich groß - gerade jetzt.
DORIS Ach ja ?
ARNO Was -finde
ich- zu weit geht, ist, wenn jemand wie Sie mit Ihrem
Unschuldslächeln
in der Gegend herumläuft und Leuten, die bis
dato
mit ihrem Leben vollauf zufrieden waren, mit Ihren abstrusen
Ideen
absolut überflüssige Selbstzweifel ins Hirn setzt.
LINDA Soweit war
unser Freund Richard nämlich immer glücklich.
Ich
habe ihn jedenfalls nie klagen hören. Jedenfalls nicht, wenn
man
ihn nicht direkt auf seine mangelnde Lebensfreude hin ange-
sprochen
hat.
DORIS empört:
Was sind Sie bloß für falsche Freunde !
Jetzt,
wo ich Sie beide kennengelernt habe, empfinde ich für
Richard noch mehr Mitleid als vorher.
ARNO Ich möchte
hier mal feststellen, dass wir Sie in keiner Weise dazu
ermutigt
haben, uns mit Ihrer Meinung zu behelligen.
Und
bei Richard hätten Sie ebenfalls besser daran getan, sich zu-
rückzuhalten.
Sie sehen ja selbst, in was für einem bemitleidenswerten
Zustand
er sich jetzt befindet. Oder wollen Sie den vielleicht auch noch
leugnen
?
LINDA Wundern würde
es mich nicht.
DORIS Ich habe mir
lediglich die Freiheit genommen, ihm einige Denkanstöße
zu
geben, das ist alles.
LINDA Denkanstöße
! Das klingt doch wohl etwas zu harmlos.
DORIS Richard ist
doch ein freier Mensch, oder ? Wenn ihn jemand einengt
mit
seinen obsoleten Verhaltensregeln, dann doch wohl Leute wie Sie.
Oder noch schlimmer: Freunde wie Sie.
ARNO Hörst
du, Richard ? Alleine schon ihr Tonfall !
Sag
selbst: Klingt doch total aggressiv, oder ?
LINDA Natürlich
klingt sie aggressiv ! Sie weiß schließlich, dass
sie auf ver-
lorenem
Posten steht.
Aber
das hindert sie ja nicht - im Gegenteil.
DORIS amüsiert:
Wie Sie sich aufregen !
ARNO Sie sagten es
bereits.
LINDA Sind Sie
wirklich nicht imstande, sich auszumalen, in was für ein
Chaos
dieses Land geraten würde, wenn selbst schon die simpelsten
Gemüter,
wie unser Richard hier, die schließlich das Fundament
unserer
Gesellschaft bilden, plötzlich damit beginnen würden, den
Status
quo auf den Kopf zu stellen ?
ARNO Denken Sie
doch mal an die ganzen Familien, die Ehen, die Greise,
die
Kinder - Die müssen doch irgendwoher geschützt werden,
meinen Sie nicht ?
DORIS Warum
gestehen Sie Ihrem Richard denn nicht zu, selber zu ent-
scheiden,
nach welchen Vorstellungen er leben will ?
Ihre
Argumentation ist -und das wundert mich wirklich überhaupt
nicht-
undemokratisch und typisch patriarchalisch.
LINDA Natürlich
! Und vermutlich auch noch sexistisch, was ?
DORIS Wie bitte ?
LINDA Entschuldigen
Sie ! Das war doch nur ein kleiner Scherz, nichts für
ungut.
ARNO Moment mal !
Haben wir uns denn wirklich zu entschuldigen ?
Wir wollen
unseren Freund doch lediglich vor der esoterischen Gehirnwäsche
dieser verirrten jungen Frau in Schutz nehmen. Das ist
doch
wohl Rechtens ! Das muss doch wohl noch Rechtens sein !
LINDA Ich habe mich
wohl hinreißen lassen. Mich zu entschuldigen !
Bei
dieser Frau muss man ja richtig auf der Hut sein, sonst dreht
sie
den
Spieß glatt um. Das hast Du jetzt ja wohl hoffentlich auch
gemerkt.
Nicht
wahr, Richard ?
RICHARD Aber durch Doris
bin ich das erste Mal richtig zum Nachdenken ge-
kommen.
DORIS Sehen Sie ?
LINDA Nachdenken -
was heißt das schon ? Wir haben doch wohl alle mal einen
nachdenklichen Tag, nicht wahr ? Deshalb muss sich doch noch
lange
nichts ändern - Und schon gar nichts Bewährtes.
ARNO Völlig
meine Meinung.
DORIS Also, meine
nicht.
RICHARD Ich muss
schon sagen: Ich sehe die Dinge anders, jetzt.
LINDA Oh, mein Gott
! Sehen Sie nun, was Sie da angerichtet haben mit
Ihrem
leichtfertigen Gerede ? Richard war doch bis heute immer die
Selbstsicherheit
in Person.
DORIS Ich habe ihm
nur gesagt, dass er nicht dazu verpflichtet ist, um jeden
Preis
zufrieden zu sein. Niemand kann ihn schließlich dazu zwingen:
Die
Gesellschaft nicht und Freunde wie Sie auch nicht.
ARNO Aber Du bist
doch zufrieden, nicht wahr, Richard ? Du warst doch
immer
zufrieden.
RICHARD Gewohnheit kann
töten. Sie kann Gefühle töten mit der Zeit.
LINDA Ist es wahr !
Seit wann redest Du denn so melodramatisch daher,
Richard
?
ARNO Wahrscheinlich
seit er sie kennengelernt hat.
RICHARD Sie kann töten
und sie schreckt auch nicht davor zurück, die Liebe in
einer
Ehe zu töten. Wußtet Ihr das nicht ? Habt Ihr noch nie
etwas
davon
gehört ? Erzählt mir doch nichts ! Ihr kennt das Problem.
LINDA Diese Frau
ist gefährlich, das wird mir jetzt ganz deutlich.
DORIS belustigt:
Lächerlich !
ARNO Das mit der
Liebe, die verschwindet: Das ist eben der Lauf der
Dinge,
Richard. Glaubst Du wirklich, Du hättest ihm in deinem Alter
noch
etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen ?
LINDA Und selbst
wenn: Glaubst Du denn, Du könntest noch einmal ganz
von
vorne anfangen ?
RICHARD Ich weiß
nicht. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Ich könnte
es zu-
mindest
versuchen.
DORIS Da seht Ihr,
wie lebendig Euer Richard noch ist. Bravo !
Klatscht
demonstrativ Beifall.
LINDA Man muss
sie unbedingt daran hindern, noch weiteres Unheil anzu-
richten.
Diese Sache mit der lieblosen Ehe zum Beispiel.
Ich
meine: Dieses angebliche Augenöffnen darüber. Was, wenn er
sich
jetzt etwas angetan hätte aus Enttäuschung ?
DORIS Ach, aus
Enttäuschung ? Na bitte. Sie geben also zu, dass Richard
sehr
wohl einen Grund hätte, unzufrieden zu sein.
ARNO Nein,
natürlich nicht !
LINDA Er hat
überhaupt keinen Grund, über irgend etwas unzufrieden zu
sein.
Das
ist mir eben nur so rausgerutscht.
RICHARD Bleibt mir nur
noch, mich von meiner Frau zu trennen. Vielleicht ist es
auch
für sie noch nicht zu spät.
ARNO Nun mal ganz
langsam. So etwas wirst Du doch wohl nicht über-
stürzen.
Überhaupt: Warum bist Du denn nicht schon früher zu uns
gekommen
als Du Zweifel hattest ?
DORIS Ach ! Und Sie
wären darauf eingegangen, ja ?
LINDA Du hättest
doch mal mit uns reden können als Du Probleme hattest.
Warum
hast Du das nicht getan ? Dazu sind Freunde doch da.
Wir
waren doch früher auch immer einer Meinung.
DORIS Sie meinen,
Richard hatte Ihrer Meinung zu sein. Das trifft doch wohl
eher
zu.
RICHARD Es ist ja auch
nicht nur meine Ehe, die mir mit einem Mal Kopfzer-
brechen
bereitet ; Ich weiß jetzt, dass ich mir auch über
meine Unent-
behrlichkeit
in meinem Beruf etwas vorgemacht habe.
ARNO Auch das noch
!
RICHARD Ich bin
entbehrlich. Jeder ist mehr oder weniger entbehrlich.
DORIS So etwas muss
man einfach akzeptieren, dann kommt man besser
zurecht,
langfristig. Jeder ist ersetzbar.
ARNO Laß dir
da nichts einreden, Richard !
LINDA Um Himmels
Willen: Hör nicht auf sie, Richard !
RICHARD Ich bin halt
auch nur ein Rad im Getriebe. Das festzustellen hat
lange
gedauert bei mir. Aber wißt Ihr: So schlimm ist es eigentlich
gar
nicht. Wirklich !
LINDA Jetzt wird
mir auf einmal alles klar: Sie ist eine Linke.
Natürlich
! dass ich da nicht schon früher drauf gekommen bin !
ARNO Ja, klar !
LINDA Alleine schon
diese Terminologie: „Rad im Getriebe“ - Das ist doch
wirklich
typischstes Gewerkschaftskauderwelsch !
DORIS Bitte ?
LINDA Sagen Sie:
Warum diskutieren Sie Ihre Ansichten nicht einfach mit
irgendwelchen
Hausbesetzern aus und verschonen Richard in
Zukunft
mit derlei Gedankengut ?
ARNO Genau,
agitieren Sie gefälligst jemand anderen !
DORIS Jetzt drehen
Sie wohl völlig durch, was ? Wie kommen Sie darauf,
dass
ich ihm irgendetwas einreden will ?
LINDA Hör mal,
Richard: Wenn Du auch mit deiner Ehe und deinem Beruf
unzufrieden
bist, so hast Du doch zum Glück noch deine drei Kinder.
Die
bleiben dir schließlich trotz aller Zweifel. Das ist doch immer
ein
Trost,
nicht wahr ?
RICHARD Schon. Aber ich
muss sagen, die Vorstellung, ein Teil von mir würde
nach
meinem Tod in ihnen weiterleben, ist doch eigentlich ziemlich
absurd,
wenn man mal in Ruhe darüber nachdenkt.
ARNO Was redest du
denn da, Richard ?
LINDA Das hat SIE
dir eingeredet, hab´ ich recht ?
RICHARD Und es gibt auch
kein Leben nach dem Tod. Für mich nicht und für
Euch
auch nicht. Für niemanden, denn es gibt auch keinen Gott.
LINDA Jetzt ist sie
zu weit gegangen ! Also wirklich: Was fällt Ihnen ein,
unserem
Freund dermaßen blasphemische Ansichten aufzudrän-
gen
? Das werden Sie eines Tages noch bereuen, glauben Sie mir.
DORIS Ach, ich
werde gar nichts bereuen. Und Sie sollten endlich aufhören,
Richard
mit Ihrem Geschwafel dumm halten zu wollen.
LINDA Richard, was
willst Du denn jetzt machen ?
Wie
soll es weitergehen ?
RICHARD Es geht weiter,
wie bisher. Was soll schon sein ?
DORIS Was hat er
gesagt ?
ARNO Er hat sich
endlich wieder unter Kontrolle.
LINDA Ein Glück
!
DORIS Richard, was
ist denn auf einmal los mit dir ?
RICHARD Ich weiß
schon noch, was ich eben alles gesagt habe, keine Sorge.
Nur
-wie ich das so sehe- werden diese Erkenntnisse keine Aus-
wirkungen
auf meinen Lebensstil haben.
Dank
dir habe ich jetzt den Durchblick. Das genügt mir.
DORIS Genügt
Dir das auch wirklich ?
LINDA Sie haben es
doch gehört ! Und jetzt lassen Sie es dabei, bitte.
Sie
haben uns alle genug verwirrt.
ARNO Wunderbar,
alles wieder beim alten.
LINDA Ganz so ist
es leider nicht.
ARNO Warum nicht ?
Haben Sie jetzt plötzlich etwa auch Zweifel, Linda ?
LINDA Nein, das
nicht. Aber etwas stimmt mich nachdenklich, muss ich
sagen.
ARNO Was denn ?
LINDA Ich gebe zu:
Auf den ersten Blick scheint alles wieder normal.
Aber
bedenken Sie: Wir haben eben selber miterlebt, dass es mög-
lich
ist, einen so bodenständigen Menschen wie Richard -Ich sagte
es
vorhin schon: den Grundpfeiler unserer Gesellschaftsordnung-
dazu
zu bringen, dass er das bewährte System anzweifelt.
Das
ist doch eigentlich erschreckend.
ARNO Sie haben
recht.
LINDA Eben.
RICHARD Könnt Ihr
denn wirklich erst zufrieden sein, wenn Ihr alles unter Kon-
trolle
habt ?
DORIS Es scheint
so.
LINDA Und ich
bleibe trotzdem dabei: Sie haben irgendetwas Fanatisches
an
sich; Als Linke, meine ich. Eine Frau wie Sie wäre in den Sieb-
zigern
sicher leicht zu einer Terroristin geworden.
DORIS Ach, so ein
Unsinn ! Ich wäre seinerzeit sicher genauso wenig eine
Terroristin
geworden, wie Sie z.B. irgendetwas Anspruchsvolles,
sagen
wir eine Journalistin.
weiter mit ...
Doris als TERRORISTIN
Linda als JOURNALISTIN
Download der Hörspiel-Vertonung von 1994/95: Download
(Autorenproduktion)